Tag 9: Kinlochleven - Lairigmor
Start in den Tag
Wie bereits erwähnt war die Nacht eher ruppig verlaufen. Sowohl Anne als auch ich hatten ziemlich mangelhaft geschlafen und waren richtig müde. Trotzdem mussten wir wohl oder übel irgendwann los. Das Leben in der Wildnis hatte uns so manchen Kniff gelehrt, weshalb wir in mittlerweile routinierter Art und Weise das Zelt recht fix eingepackt hatten. Auch an diesem Morgen machten uns die Midges wirklich zu schaffen. Aber gut, beim Laufen wird sich dieses Problem ja dann erledigen und so starteten wir erneut frohgemut in den neuen Tag hiein.
Wanderzeit
Die Old Military Road führte uns zunächst hinab nach Kinlochleven, wo wir einer alten Frau begegneten. In Schottland begrüßt man sich - anders als in Deutschland - ständig mit "How are you?". Da ich zum ersten mal in Großbritannien war, wusste ich das aber nie so richtig einzuordnen. Ich hatte mich schon die ganze Zeit gefragt, welche Antwort die Schotten hier erwarten. Ich bezweifle ja stark, dass sie Lust haben, sich mit mir über morgendliche Übelkeit, Kohletabletten und meine geschundenen Füße zu unterhalten. Auch die in die Jahre gekommene Lady begrüßte uns also derart. Dieses Mal antwortete ich nicht einfach mit einem wohlgesonnen und milden Lächeln von feinster Sorte, sondern erwiederte: "Good and you?" Ich weiß auf jeden Fall jetzt, dass das nicht die normalerweise darauf gegebene Antwort ist und dass man vielleicht besser bei eben erwähntem Lächeln bleibt. Die Dame schmunzelte nämlich kurz und fügte dann mit einer Mischung aus Nachdenklichkeit, Melancholie und großer Trauer hinzu: "Have had better days". Herzzerreißend. Wir sahen ihr zu, wie sie ihres Weges schlurfte, zum Supermarkt, den wir auch aufsuchen wollten, und ich machte mir Gedanken darüber, was sie alles durchgemacht und erlebt haben mochte und wie sie sich nun scheinbar an den alltäglichen Einkauf und den Spaziergang klammerte, war er doch womöglich das einzige, was sie noch hatte. Schnell versuchte ich, die Gedanken zu verbannen und mich darauf zu konzentrieren, was wir im Supermarkt kaufen würden.
Shopping
Mittlerweile hatte es angefangen zu regnen und wir waren schließlich froh, den Supermarkt betreten zu können. Dieser empfing uns mit fröhlicher Musik der Beatles: "From me to you". Cool. Die haben hier auf jeden Fall einen besseren Musikgeschmack als in Deutschland bzw. deutschen Supermärkten. Die Preisschilder betrachtend fiel uns auf, wie günstig die Lebensmittel hier im Vergleich zum Glencoe Mountain Resort waren, wo wir das letzte Mal eingekauft hatten. Für die drei- bis vierfache Menge an Lebensmitteln zahlten wir hier 13 Pfund und waren somit noch immer deutlich unter dem Wucherpreis des Resort-Cafés. Mühsam verstauten wir alsobald unsere Einkäufe und mussten einmal mehr die angewachsene Last auf unserem zarten Rücken spüren.
Anne musste jetzt noch auf die Toilette und ich wurde schon etwas ungenießbar, weil wir nichts gefrühstückt hatten. In einer Boulderhalle ließ man uns gnädigerweise pullern und dann gingen wir im Regen auf den Wanderweg zurück und frühstückten im Schutz einer Bushaltestelle. Endlich wurden die hungrigen Mägen gestillt und die Laune stieg mit jedem Bissen exponentiell.
Walking on Sunshine?
Als der Regen dann auch noch nachließ, waren wir startklar. Und das mussten wir auch sein, denn bald sollte wieder ein steilerer Anstieg folgen. Bis dahin liefen wir aber noch ein kleines Stück durch das Dorf (oder nennt man das hier vielleicht schon Stadt - mit Rückblick auf Inversnaid?) und ich fand die Straßenschilder cool, die auf Gälisch und Englisch gehalten waren. Die Motivation sank dann beim Anstieg des nächsten Berges. Ich glaube, den empfand ich anstrengender als die Devil's Staircase... Vielleicht, weil die Luft vom gerade vorübergezogenen Regenschauer gesättigt und dementsprechend schwül war und wir uns 80% des Anstiegs die Köpfe darüber zerbrachen, welche Kleidung denn jetzt wohl angemessen wäre.
Die Aussicht oben war aber schön und bot uns einen tollen Rückblick auf den bisherigen Weg und Teile der gestrigen Etappe. Und dann fing es auch schon wieder an zu regnen. Trotzdem war mir unglaublich warm. Ich beschloss, die Regenjacke und das Langarmshirt in Kombination mit ZIP-Hose und Regenhose als Evergreen-OOTD zu küren und war somit auch gegen den hier - zugegebenermaßen - doch recht frischen Wind bestens gewappnet.
Einsamkeit
Die folgende Strecke führte uns in wunderbarer Einsamkeit durch das satte Grün der Highlands. Mit Sicherheit einer der schönsten Wegabschnitte des gesamten WHWs. Nach einiger Zeit erreichten wir auch die Ruine, die ein beliebtes und bekanntes Fotomotiv ist. Diese besichtigten wir kurz und überlegten bereits hier, unser Zelt aufzuschlagen, entschieden uns dann aber fürs Weiterwandern, weil wir nicht wussten, wie viel wir schon heute gelaufen waren. Übers Internet konnten wir diese Information auch nicht abfragen, denn wir hatten keinen Zugriff. Als wir dann weiterliefen, überquerten wir immer wieder kleine Bäche. Sehr idyllisch!
Nur wenig später erreichten wir eine zweite Ruine mit wunderbarer Zeltgelegenheit. Zunächst noch von Unsicherheit zurückgehalten bestätigten uns schließlich auch zwei Wanderer darin, dass wir heute genug gelaufen waren. Sie gaben uns die Info, dass es bis Fort William noch ca. 12 km waren. Easy machbar für morgen! Heute war der letzte Wildcamp-Tag und der Platz war wirklich mehr als perfekt. Da sich wieder einmal eine graue Wand voller Regen näherte, mussten wir uns jetzt beim Zeltaufbau sputen. Und siehe da: In 5 Minuten war es erledigt, die Sachen im Zelt verstaut und wir kamen gerade rechtzeitig ins Trockene, bevor der Regen auf das Zelt prasselte. Im Stübchen verblieben wir dann ca. 20 Minuten, bis die Wolken sich verzogen und der Sonne Platz gemacht hatten.
Goldene Stunde
Dann fing ich draußen an, Wasser aufzukochen, aber erneut näherte sich der Regen. Also kochten wir im Vorzelt und aßen drinnen. Als der Regen sich dann wieder verzogen hatte und das Essen in unseren Mägen verschwunden war, verließen wir das Zelt und bewunderten die Stille und die unglaubliche Idylle unseres Platzes. Links und rechts erhoben sich die Berge, ein Bach rauschte nahe des Zeltes vorbei und die scheuen Schafe blökten, um sich immer wieder ihre Standorte zu schicken und dann zu sammeln, damit auch ja keines verloren ginge.
Langsam ging die Sonne unter und das Grün der Highlands vermischte sich mit dem gleißenden Gold der untergehenden Sonne. Ich kam aus dem Staunen wirklich nicht mehr heraus. Und hier würden wir morgen früh aufwachen ... eine wohlige Wärme durchfuhr mich bei diesem Gedanken und zum ersten Mal auf der gesamten Tour äußerte sich in mir ein Gefühl, was sich wohl aus Ruhe, Zufriedenheit, Freiheit und Glück zusammensetzt. Trotz des kalten Windes konnte ich nicht anders, als in die Weiten der Highlands zu blicken und zu genießen.
So stand ich eine halbe Ewigkeit, bis es mir dann doch zu kalt wurde. Dann verkrümelte ich mich zu Anne ins Zelt und genoss den Anblick von dort aus durch das geöffnete Zelt.
Als die Midges dann doch langsam auftauchten, beschlossen wir, das Zelt zu schließen und langsam zu schlafen. Der schönste Tag der Tour - meiner Meinung nach - war zu Ende gegangen. In diesem kostenlosen 1000*-Hotel konnte man es wirklich gut aushalten...